Montag, 14. März 2011

Kant und die Sache des Kerns

Der kategorische Imperativ ist ein wunderbares Konstrukt. In einfachen Worten besagt er, dass man von anderen nur das erwarten darf, was man selbst zu leisten bereit ist. Dies gilt vor allem für das eigene Verhalten. Prüfen wir also mal unser Verhalten, während wir uns über die Atomkatastrophe in Japan die Münder wund diskutieren und die Köpfe zerbrechen.

Mittlerweile steht es jedem frei, den Stromanbieter zu wechseln und sich für einen maßgeschneiderten Vertrag zu entscheiden. Da gibt es dann auch die Variante "Ökostrom". Haben wirklich alle, die die Kernenergie (zu Recht) verteufeln, in ihrem privaten Umfeld diese Variante gewählt? Vermutlich nicht. Die Gründe dafür sind nicht geheim und allzu menschlich: Zurzeit bezahlt man für Ökostrom mehr als für konventionellen. Und kein in der materialistischen Welt sozialisierter Mensch kann sich der Versuchung entziehen, Geld zu sparen. Zumal es um eine Ware geht, die in jedem Falle aus der Steckdose kommt und der man nicht gleich ansieht, wie sie produziert wurde. Dass es sich hierbei weitgehend eher um ein ökonomisches Problem handelt denn um ein weltanschauliches, merkte man in den letzten Monaten ja schon daran, wie in den Medien das Thema "Ökostrom-Subventionen machen den Strom für alle teurer" behandelt wurde.

Um das klar zu stellen: Natürlich hat die Politik komplett versagt. Sie hat es allein schon deshalb getan, weil sie keine Rahmenbedingungen vorgegeben hat, unter welchen Gesichtspunkten Strom erzeugt werden sollte. Damit hat sie sich abhängig gemacht von einer wildgewordenen Energiewirtschaft, die auch die politischen Entscheidungen trifft, ja vorwegnimmt. Keinem logisch denkenden Gehirn wird es jemals verständlich sein, wie man eine Technik im öffentlichen Raum etablieren kann, die höchst gefährliche Betriebsstoffe verwendet und Produkte generiert, für die es keine – wiederhole: keine! – Möglichkeit zur sicheren Abfallsbeseitigung gibt. Zahlreichen Menschen, darunter auch mir, ist es zudem höchst suspekt, dass der zentrale Punkt einer kerntechnischen Anlage für Menschen ohne Todesgefahr nicht zugänglich ist. Was dies bei Störfällen bedeutet, konnte man in Mayak, in Windscale, in Tschernobyl und jetzt auch in Japan klar sehen.

Ein zusätzlich verwirrender Aspekt ist der, dass die Technik der laufenden Atomkraftwerke bereits einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Als die Mehrzahl der Reaktoren gebaut wurde, telefonierte man noch mittels Wählscheiben aus Bakelit. Man hatte im Auto keine Kopfstützen, von Sicherheitsgurten ganz zu schweigen. In Schuhgeschäften wurden Kindern die Füße gleich in den gewünschten neuen Schuhen geröntgt, um sicher zu sein, dass sie auch passen.

Und jetzt muss man hören, dass die defekten Notstromaggregate in den havarierten japanischen Atommeilern nicht einfach durch intakte ersetzt werden können, weil es schlicht keine Ersatzteile mehr gibt. Die Technik ist zu alt. Es werden keine entsprechenden Teile mehr hergestellt. Ein Phänomen, das jeder kennt, der einen Oldtimer als Auto hat. Da muss man sich mitunter die Ersatzteile selber schmieden. Aber wie ist das bei einer technischen Anlage möglich, bei deren Versagen Menschen sterben und die Umwelt auf Jahrhunderte unbewohnbar wird? All dies ins Kalkül zu ziehen, war und ist die Aufgabe gewählter Volksvertreter. Und da haben sie versagt und sie tun es immer noch.

Wenn sich einzelne Politiker jetzt hinstellen und öffentlich kundtun, dass beispielsweise die Kernkraftwerke in Krümmel und Brunsbüttel unabhängig von der Laufzeitdebatte abgeschaltet werden sollten, dann ist das ein Zeitpunkt, an dem man sich kurz zurücklehnen sollte, um diese Aussage richtig wirken zu lassen. Sie besagt nämlich nichts anderes, als dass mindestens diese beiden Kernkraftwerke so unsicher sind, dass selbst Befürworter der Laufzeitverlängerung den Betrieb als riskant einschätzen. Perfide ist dabei, dass dies ohne das Erdbeben in Japan niemals auf die Tagesordnung gekommen wäre. Wenn es denn eines Belegs bedurft hätte, dass wider besseren Wissens mit der Gesundheit (um nicht zu sagen, mit dem Leben) der Menschen gespielt wird, um die Profite der politischen Klientel zu sichern, dann liegt er hiermit vor. Und an diesem Punkt zählt auch Inkompetenz nicht mehr als Entschuldigungsgrund.

Dies zu schreiben, bedeutet gleichermaßen, dass man sich mit den Konsequenzen für das eigene Handeln auseinanderzusetzen hat – und damit wären wir wieder bei Immanuel Kant. Reicht es aus, Menschenketten zu bilden und Plakate in die Höhe zu halten? Sicher nicht, zumal dann nicht, wenn die Ketten aus Menschen bestehen, die anderenorts ebensolche Ketten bilden, um gegen die Errichtung von Windanlagen im Wattenmeer zu protestieren.

Nein, der hehren Absicht muss konkretes Handeln folgen, und zwar nicht zuerst von anderen (Politik, Wirtschaft), sondern von uns selbst. Wir sind gefordert, Strom einzukaufen, der aus erneuerbaren Quellen stammt. Wir sind gefordert, Strom zu sparen – ein Punkt übrigens, der von der Politik nur sehr selten kommuniziert wird. Wenn man eine bestimmte Art der Stromerzeugung nicht haben möchte, dann muss man dazu stehen, auch wenn es bedeutet, dass man (zunächst) weniger Strom verbrauchen kann.

In verschämten Klammern stand da soeben das Wort "zunächst". Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass man die Energiemenge, die durch den Wegfall der Kernenergie fehlt, durch andere, erneuerbare Energie ersetzen könnte. Wenn man denn wollte! Norwegen beispielsweise wäre in der Lage, durch Wasserkraft etwa 60 der europäischen Kernkraftwerke obsolet zu machen. Sogar die entsprechenden Seekabel sind bereits gelegt oder stehen kurz davor. In Deutschland fehlt lediglich eine Genehmigung des Wirtschaftsministeriums, damit man diese Kabel an das deutsche Stromnetz anschließen kann. So lange jedoch die Mehrheit die Lieferung von Atomstrom akzeptiert, so lange gibt es keinen Druck, um diese Entscheidung zu beschleunigen.

Nun hat natürlich alles hat seinen Preis. Und wenn man von Wirtschaftsunternehmen erwartet, dass sie sich dem Wechsel zum Ökostrom anschließen, darf man gleichzeitig davon ausgehen, dass die höheren Energiekosten (zunächst) auch höhere Verbraucherpreise nach sich ziehen. Mit anderen Worten: Die Umstellung wird etwas kosten. Alle und jeden.

Da ist Stromsparen eine durchaus attraktive Variante. Und die Frage im Kantschen Sinne ist: Wie viel Strom bin ich selbst bereit zu sparen? Kleinigkeiten wie beispielsweise das Ausschalten von Standby-Geräten sind ja auch schon manchen zu viel Aufwand. Dazu müsste man das Fernsehgerät vor der Programmwahl via Fernbedienung ja erst manuell einschalten. Wie mag es da erst mit größeren Einschränkungen aussehen? Beispielsweise mit einer allgemeinen Stromabschaltung für Haushalte zwischen 12 und 13 Uhr oder zwischen 18 und 19 Uhr, um den Peak des allgemeinen Elektroherd-, Wasch- und Spülmaschinenbetriebs zu glätten? Es gäbe einen Aufschrei, darf man vermuten. Wenn nicht sogar Menschenketten!

Was an diesem Punkt dann wirklich fehlt, ist Mut. Der Mut des Einzelnen, die nötigen Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen. Und der Mut der Politiker, die Wende in der Energiepolitik mit Wahrheit und Offenheit einzuleiten. Dazu muss man nämlich aussprechen, dass diese Wende ohne Änderungen unseres alltäglichen Verhaltens nicht möglich ist. Dass wir die Wahl haben – und nicht nur die mit Stimmzettel: Wollen wir abschalten oder wollen wir nicht. Wenn ja: siehe oben!

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©2011 Julius Moll

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