Mittwoch, 8. Mai 2013

Im Zeichen der Gehörnsäge

Dreizehntausend ist eine durchaus imponierende Zahl. Man versuche sich vorzustellen: 13.000 Paar Schuhe im Schrank, 13.000 Pickel im Gesicht, 13.000 Mücken im Schlafzimmer – im Grunde genommen recht überwältigend. Bei 13.000 Sandkörnern oder 13.000 Euro relativiert sich das Ganze ein wenig, wenn man eine Sandburg oder ein Haus bauen will. Bei 13.000 Menschen kommt man schon wieder ins Grübeln. So viele gehen aber immerhin in die Fankurve eines anständigen Fußballstadions.
Warum ich mich auf die 13.000 kapriziere? Nun, die Hauptstadt von Süd-Dakota heißt Pierre und hat diese Zahl an Einwohnern. Eine einzige Fankurve als Hauptstadt – welch deprimierende Vorstellung! Das kann aber unmöglich der einzige Grund sein, warum Pierre vor einigen Jahren als „Suicide City“ betitelt wurde: Die Selbstmordrate hatte bedrohliche Werte erreicht. Sucht man nach Gründen, wird man schnell fündig und kann sich kaum entscheiden, welcher der gewichtigste sein könnte.
Zwei Kandidaten stehen sicher in der engen Wahl. Zunächst einmal gibt es in Pierre ein State Capitol; es sieht aus wie das Capitol in Washington, ist aber dreizehntausendmal kleiner. Dort spielten sich schon früher deprimierende Dinge ab. Zunächst verlor Deutsch bei der Abstimmung über die Amtssprache mit einer Stimme gegen Amerikanisch, aber das mag man im vernetzten elektronischen Zeitalter ja gerne verschmerzen. Weitaus deprimierender ist ein großer Vitrinenschrank im ersten Zwischengeschoss. Dort sind Miniaturroben ausgestellt. Es handelt sich um die handgefertigen Kleinreplikas der Abendkleider, die die Frauen der jeweiligen frischgewählten Gouverneure bei der Amtseinführung ihrer Gatten trugen. Vermutlich waren alle Einwohner Pierres an der Herstellung dieser Kleinode beteiligt, manche sicher zwangsweise. Ich denke da an den männlichen Teil der Bevölkerung, der sonst am nahe gelegenen Lake Oahe im Sommer mit Fischen und im Winter mit Eisfischen reichlich zu tun hat.
Gleich in der Nähe von Pierre liegt die imaginäre Linie, die die Central Time Zone von der Mountain Time Zone trennt. Wenn man da auf der falschen Seite des Sees fischt, ist man ruckzuck eine Stunde später daheim, wenn man nicht aufpasst. In der Zeit hätte schon eine weitere Rüsche eines Mini-Abendkleides fertig sein können.
Zieht man die einzig vernünftige Konsequenz und verlässt Pierre mit dem Auto Richtung Norden, so beginnt man nach 50, 60 Kilometern die 13.000 Zurückgelassenen zu vermissen, denn die einzigen Lebewesen, die man hin und wieder zu Gesicht bekommt, sind braun und tragen Gehörn. Der erste Ort nach längerer Autofahrt heißt Onaida, und genau so sieht es dort auch aus. Zur Ermittlung der Einwohnerzahl muss man 13.000 durch 100 teilen, wenn Sie wissen, was ich meine.
Einsame Kilometer weiter taucht wieder ein Schild aus dem Bodennebel auf: Agar, Population: 82. Die sind wenigstens ehrlich. Wie oft sie die Einwohnerzahl korrigieren, weiß man nicht. Aber sie kann unmöglich ständig bei 82 liegen. Ich habe dennoch angehalten – und wenn ich erkläre, warum, wird man vermuten, dass ich zu lange in der Gegend geblieben bin, um ohne geistige Beeinträchtigung heimkehren zu können.
Vielleicht sollte ich zur Erhöhung der Pointe zunächst darauf hinweisen, dass es Winter war in Süd-Dakota. Das ist noch deprimierender, als man zunächst glauben mag. Dadurch wird aber erklärlicher, dass ich an eine Art von Einsamkeitshalluzination glaubte, als hinter einer Schneeböschung ein Straußenkopf auftauchte und mich neugierig beäugte. Da hätten Sie auch angehalten und wären die paar Schritte die Böschung hochgeklettert, geben Sie's ruhig zu! Ich kannte zwar die Regel „Wo man zehn Mäuse sieht, sind noch hundert andere“, aber die Regel „Wo dich ein Strauß anblickt, sind noch tausend andere“ kannte ich bis dato nicht.
Mitten im Winter! Die armen Vögel. Als sie mich bemerkten, kamen sie alle – ich wiederhole: alle! – auf mich zugerannt; und ich vermute, Sie ahnen, was das bei Straußen heißt. Verdenken konnte ich es ihnen nicht: Vermutlich war ich außer ihrem Herrchen der erste Mensch, den sie seit Jahren zu Gesicht bekamen.
Wegen des lauten Straußengalopps tauchte auch bald der besorgte Straußenbesitzer auf, der natürlich eine Flinte in Händen hielt. Da ich keinen Laufkorken bei mir trug, um ihn vorne hineinzustecken, damit sich der Schuss nach hinten löse, wurde mir durchaus mulmig. Glücklicherweise stellte sich früh genug heraus, dass der besorgte Vogelhändler deutsche Vorfahren hatte und daher keine direkte Veranlassung mehr sah, einen – ja, wie nennt man das in diesem Falle: Stieflandsmann? Schwiegerlandsmann? Na, ich weiß nicht! – Menschen zu treffen, der so sprechen konnte wie sein Vater (der Herr habe ihn selig).
Bei einer heißen Ovomaltine erzählte er mir, dass er außer Straußenzüchter auch noch Jäger sei. Da gebe es genug Arbeit in dieser Gegend. Sein Waffenschrank hatte die Ausmaße einer Kölner Eigentumswohnung. Auf dem Couchtisch lag ein Katalog für Jägerbedarf, in deutscher Sprache von einem deutschen Händler. Arthur, so hieß der Oberstrauß, dachte gerade über die Anschaffung eines Wildkühlschranks nach. Zunächst verstand ich das Wort nicht auf Anhieb und hätte schwören können, dass er „Wildkühlschrank“ gesagt hatte. Wie sich herausstellte, hatte ich ihn richtig verstanden. Begeistert zeigte er mir den Artikel im Katalog. Tatsächlich, ein Wildkühlschrank! 
„Elektrolux Umluft-Wildkühlschrank – Zur schnellen Abkühlung von zwei Stück Rehwild oder einem Stück Schwarzwild (bis ca. 65 kg) nach den Vorschriften der Fleischhygieneverordnung. Temperaturbereich von 1° bis 12°C. Bruttoinhalt 368 Liter. Wechselbarer Türanschlag. Abschließbar. Mit Laufrollen und verstellbaren Füßen. Innenbeleuchtet. Wildgehänge mit zwei Schiebehaken und 4 Regalböden. FCKW-frei. Außenmaße 59,5x59,5x185 cm, Innenmaße 52,5x48,0x160 cm (BxTxH). € 1070,–“
Die Angabe „mit Laufrollen“ fand ich besonders interessant. Bis dahin hatte ich ja gedacht, der ordentliche Waidmann habe das Gerät bei sich zu Hause im Keller stehen. Nun begann ich jedoch in Erwägung zu ziehen, dass man die Kiste während der Jagd hinter sich her ziehen könnte, um das Wild vor Ort zu kühlen. Allerdings gab es im gesamten Katalog keine einzige olivgrüne Wildkühlschrank-Tarnabdeckung, denn wenn man mit diesem riesigen weißen Ding im Wald auftaucht, lachen sich die Rehe ja einen Wolf! Meinen weiteren Einwand, dass man bei –15 Grad keinen Kühlschrank bräuchte, entkräftete Arthur mühelos: „Im letzten Sommer hatten wir fast 45 Grad im Schatten.“ Dann allerdings …
Nun hatte der Katalog noch mehr zu bieten; Dinge, an die ich vorher ehrlich gestanden noch nie gedacht hatte: „Gehörnsäge mit Abschlagevorrichtung und Rundstab-Sägeblattführung. Kein Verhaken und Verkanten der Säge. Das Sägeblatt bleibt dadurch länger scharf! Gleichmäßiger, glatter Schnitt, der nicht mehr nachbehandelt werden muss. Die Trophäe passt genau aufs Schild! Einstellmarkierung – dadurch exakte Einstellung des Schnittwinkels. Verzinkte Ausführung. € 39,95“ Und dazu noch den ergänzenden Artikel „Ersatzsägeblatt mit Griff, € 8,50“, der mich an den berühmten Katalogeintrag einer Antiquitätenauktion erinnerte: „Antikes Messer ohne Griff, dem die Klinge fehlt.“
Zugegebenermaßen war mir vorher auch nicht recht klar gewesen, dass man Wildteile nach dem Ermorden nicht einfach zu Trophäen zurechtsägen sollte, weil dann das anhaftende Restgewebe zu verwesen beginnt. Nein, nein! Doch die Lösung ist ja so einfach: „Abkoch-Vorrichtung für Trophäen – Zum sauberen, bequemen Abkochen von Reh-Gehörnen, Gamskrucken usw. Einfaches Anbringen durch gummiarmierte Halterung und Flügelschrauben. Stufenlose Verstellmöglichkeit in 4 Richtungen. Korrosionsgeschützt, die Armierung besteht aus wasser-, hitze- und fettbeständigem Spezialgummi. € 29,95“Darauf muss man erst mal kommen! Die Trophäenpräparation geht so zweifellos sehr leicht von der Hand.
Ich bin dann nach Norden weitergefahren. 
Da kommt man dann – Sie werden es ahnen – nach Nord-Dakota. Und wenn Sie wissen wollen, warum das die Gesamtsituation nicht verbessert, sehen Sie sich den Film „Fargo“ an. Ich versuche derweil mal herauszufinden, ob es auch fahrbare Bierkühlschränke gibt.
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© Julius Moll

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