Montag, 30. Januar 2006

Are you ready?


Ein Szenario in nicht allzu ferner Zukunft: Sie verspüren Hunger und werfen einen Blick in den Kühlschrank. Wegen der dort herrschenden deprimierenden Leere wechseln Sie schnell hinüber zum zentralen Haushaltscomputer und wählen die Internetadresse Ihres Lieblingssupermarktes. Sobald die Verbindung steht, ziehen Sie eine Chipkarte aus der Tasche und stecken sie in das angeschlossene Kartenlesegerät. Auf der Chipkarte sind jedoch nicht etwa die Daten Ihrer Bankverbindung oder die Kreditkartennummer gespeichert, sondern die Einzelheiten Ihrer DNA-Sequenz. Mit Hilfe dieser Information wählt die Software des Supermarkt-Servers diejenigen Nahrungsmittel aus, die biotechnisch genau auf Ihre molekularen Bedürfnisse zugeschnitten sind und dafür sorgen, dass Sie mit Aminosäuren, Fetten, Zuckern und Vitaminen so versorgt werden, dass Ihr Körper optimal davon profitiert.
Eine Zukunftsvision, wie gesagt. Und unter physiologischen Gesichtspunkten macht dieses Szenario sogar durchaus einen gewissen Sinn. Dennoch weckt die Vorstellung Misstrauen, dass man den eigenen genetischen Code auf diesem Weg in die Öffentlichkeit entlassen könnte (wie schwer tut man sich allein bei der Preisgabe der Kreditkartennummer!).
Was ist es, das dieses Misstrauen ausmacht? Was ist die Essenz dessen, was da als Erbinformation in der spezifizierten Reihenfolge von Bausteinen offenbar wird – einer Anzahl von Bausteinen, die in der Größenordnung von gut sechs Milliarden ziemlich genau der Menge von menschlichen Individuen entspricht, die heute auf der Erde leben?
In zahllosen Beiträgen zum Fortgang des Humangenom-Projekts ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die DNA-Sequenz gleichsam das ultimative „Buch der Menschheit“ repräsentiere, dessen Kenntnis die Beantwortung der letzten Fragen des menschlichen Daseins ermögliche. Die Metapher vom „gläsernen Menschen“ ist nur eines der vielen Indizien für diese Sichtweise. Und so lautet nun die Frage, ob das Genom wirklich ein Synonym für das Menschsein ist.
Eine frühe Variante des Problems wurde in den 60er und 70er Jahren deutlich, als die Entwicklungspsychologen über den Einfluss der Gene auf die Kindesentwicklung diskutierten und an Hand von Studien an eineiigen Zwillingen darüber stritten, ob Intelligenz vererbbar oder anerziehbar sei. Gleich, welcher Hypothese man näher steht, hat sich doch – so weit sich das beurteilen lässt – die Auffassung etabliert, dass am Genom als feststehendem Ausgangspunkt nicht zu rütteln ist.
Hier kommt möglicherweise die Sehnsucht nach Selbstbeschreibung und -erkenntnis zum Ausdruck. Warum bin ich die Person, die ich morgens im Spiegel sehe? Könnte ich mit den gleichen Gedanken der Morgentoilette nachgehen, wenn ich andere Eltern gehabt hätte? Oder gibt mein Genom das Bewusstsein und Verhalten vor?
Dies ist wohl auch die Frage nach der Seele. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass ein Pionier der Molekulargenetik, Max Delbrück, darauf hingewiesen hat, dass sich die Existenz eines „genetischen Programms“ – in Form der DNA-Sequenz – mit dem philosophischen Konzept eines organisierenden Etwas bemerkenswert deckt. Aristoteles nannte dies das „eidos“; eine Bezeichnung, die heutzutage vielen nur als Name einer Software-Firma bekannt ist, die die Gestalt der Cyber-Ikone Lara Croft geschaffen hat. Die Idee einer unsichtbaren, inhärenten Kraft, die die Materie in einen definierbaren Organismus verwandeln kann, hat sich nicht nur bei Thomas von Aquin fortgesetzt, sondern seine Spuren auch in den Diskussionen zum §218 hinterlassen, so weit es um die Frage ging, wann ein menschlicher Embryo eine eigene Persönlichkeit erlangt.
Das Vorhandensein eines kompletten Genoms alleine reicht aber offenbar nicht aus, um ein Individuum zu definieren. Einem Neugeborenen gesteht man ohne Zögern menschliche Grundrechte zu, einer Keimzelle wie dem Spermium oder dem Ei jedoch nicht. Was ist der Unterschied? Ist es der physikalische Status des Genoms? Keimzellen besitzen immerhin lediglich einen einfachen Chromosomensatz, und erst nach erfolgreicher Befruchtung vereinigen sich beide Sätze zum diploiden Satz, so dass der Embryo eine doppelte Genausstattung trägt – eine Hälfte von der Mutter und eine Hälfte vom Vater. Erlangt man deshalb mit dem Zeitpunkt der Befruchtung seine persönliche Identität?
Wenn man auf die oben genannten entwicklungspsychologischen Studien über eineiige Zwillinge zurückblickt, beantwortet sich diese Frage (fast) von selbst. Jeder der Zwillinge hat eine eigene Lebensgeschichte, und wie man weiß, lassen sich die Individuen trotz ihrer genetischen Identität phänotypisch unterscheiden, und das nicht nur von engen Verwandten. Offenbar führen identische Genome nicht zu identischen Personen – ein kleiner Trost für prospektive Menschenklone?
Gibt es also Konzepte, die die eherne Macht der genomischen Information zumindest leicht erschüttern könnten? Eine kürzlich erschienene Forschungsarbeit hat Indizien dafür erbracht, dass auch bei höheren Säugern wie uns der Eintrittspunkt des Spermiums in das Ei einen Orientierungspunkt für die Anlage der zukünftigen Teilungs- und damit Körperachsen darstellt. Dieser Eintrittspunkt ist nirgendwo im Genom der Mutter oder des Vaters spezifiziert – ein zufälliges Ereignis also, ermöglicht zwar durch die Grundaustattung der interagierenden Spermien- und Eimembranen, aber dennoch nicht vorhersagbar. Auch nach der Befruchtung, während der Embryonalentwicklung, setzt sich diese Art der Musterbildung fort. Experimente unter Schwerelosigkeit haben gezeigt, dass die Lage des Embryos in Bezug auf die herrschende Schwerkraft die Achsen der frühen Zellteilungen bestimmen kann. Und da die physikalischen Grundgesetze auch für biologische Prozesse gelten, darf man davon ausgehen, dass sich quantenmechanische Prinzipien auch auf makromolekularem Niveau fortsetzen. Vielleicht kann man die Art solcher Vorgänge an einem Beispiel klarmachen: Man stelle sich einen Hörsaal, ein Klassenzimmer, ein Großraumbüro oder ähnliches vor. Die Menschen in diesem Raum beginnen mit einem Ratespiel. Eine Person wird hinausgeschickt, und der Rest einigt sich auf einen Begriff, den die Person raten soll, sobald sie wieder hereingekommen ist. Dazu darf sie Fragen stellen, die die Anwesenden mit Ja oder Nein beantworten. Bei pfiffiger Fragetechnik lässt sich der Begriff dann erraten. Die „quantenmechanische“ Variante liefe genauso ab, nur dass sich die Anwesenden vorher nicht auf einen Begriff einigten. Die Lösung des Spiels hinge also nur von den Fragen und Antworten ab und wäre dennoch durch die individuellen Charaktere der Beteiligten vorherbestimmt.
Und daher wäre es vermutlich kein Fehler, wenn man sich die gesamte Entwicklung eines Individuums, basierend auf der Umsetzung der genetischen Information, in solcher Weise vorstellte. Dies würde zumindest verhindern, dass man die Individualität des Einzelnen auf sein Genom reduziert. Vor allen entkäme man der Notwendigkeit, in den Sequenzdaten des Humangenom-Projekts Spuren der eigenen Identität zu suchen. Man wird sie nicht finden! Leider vermitteln die Veröffentlichungen zu diesem Thema dem Laien den Eindruck, als gelte die ermittelte Sequenz für alle Menschen dieses Planeten. Dies ist – und das sei hier ausdrücklich bemerkt – absolut nicht der Fall. Der genetische Polymorphismus innerhalb der menschlichen Population ist so groß, dass man mit dem Gedanken an die Erfassung aller auftretenden Unterschiede erst gar nicht spielen muss. Vielleicht hilft in diesem Fall auch die evolutionsbiologische Erkenntnis, dass alle Genome, die auf der Erde vorkommen, ständiger Veränderung unterworfen sind. Im evolutionären Zeitraffer ändern sich die Zusammensetzungen und Basensequenzen in faszinierender Geschwindigkeit.
Es ist daher auch nicht sinnvoll, der Bedeutung des Genoms für die Integrität der Spezies Mensch übermäßige Bedeutung beizumessen. Ansonsten müsste einem nämlich die Tatsache zu denken geben, dass Menschen- und Schimpansengenom zu 98,7 Prozent übereinstimmen. Hier wird deutlich, dass auch der Artbegriff nur wenig mit einer strengen Abgrenzung der einzelnen Genome zu tun hat. Diese Abgrenzung wird durch die Fähigkeit einer Gruppe von individuellen Organismen bestimmt, sich untereinander fortzupflanzen. Und fast noch wichtiger ist, dass sich die entstehenden Nachkommen im sozialen Umfeld der Elternpopulationen zurechtfinden und dort akzeptiert werden. Es gehört mehr zur Artzugehörigkeit als der Besitz eines vergleichbaren Genoms.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Folgen die Kenntnis einer Variante des menschlichen Genoms für die Gesellschaft haben wird. Werden die nackten Daten so in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Wahrnehmung gestellt, wie es den Anschein hat? Man braucht die Diskussionen zu denken, die Peter Sloterdijk mit seinen Überlegungen zum Genom-optimierten Menschenpark entfacht hat (und damit das „genozentrische“ Weltbild weiter etabliert hat). Werden Versicherungsgesellschaften nur noch Versicherungsnehmer akzeptieren, deren Sequenzen sich mit denen einer Mehrheit decken? Werden Individuen, deren Sequenzen an bestimmten Stellen von denen der Mehrheit abweichen, überhaupt noch geboren werden? Und wenn, wird man sich in Zukunft auf die Unzulänglichkeiten des eigenen Genoms auch im Alltag berufen? Wird man sich dann nicht mehr mit den Worten entschuldigen: „Ich hatte eine Grippe!“, sondern mit „Tut mir Leid; ich habe eine Punktmutation im Influenzavirus-Rezeptor-Gen“?
Die Erörterung solcher Fragen steht ganz oben auf der Tagesordnung. Zweifellos käme der Politik die wichtige Aufgabe zu, eine breite Diskussion zu initiieren, doch leider beschränken sich die wenigen Ansätze bisher lediglich auf ökonomische Aspekte. Doch auch die Wissenschaft ist in die Verantwortung genommen, und hier ergeben sich vermutlich Ansatzpunkte zu einer wirklich radikalen Veränderung. Eine solche kann dann eintreten, wenn sich die Sichtweisen der einzelnen Wissenschaftszweige zu einem einheitlichen biologisch-sozialen Weltbild zusammenfügen ließen. Die Philosophie hat in der Vergangenheit die Bearbeitung naturwissenschaftlicher Fragen weit gehend in die Hände der zuständigen naturwissenschaftlichen Fächer wie Physik, Chemie und Biologie abgegeben. Die Naturwissenschaftler – und im hier diskutierten Zusammenhang insbesondere die Biologen – haben die philosophischen und ethischen Implikationen ihrer Erkenntnisse hinter die experimentellen lösbaren Fragen zurückgedrängt. Es wäre sicherlich von Vorteil, wenn alle Anstrengungen unternommen würden, die verschiedenen Perspektiven und die damit verbundenen Antworten unter einem Dach zu vereinen.
Bis dahin sind vor allem die wissenschaftlichen Laien der menschlichen Population darauf angewiesen, sich ihr eigenes, komplexes Bild zu machen. Es ist zu hoffen, dass sie dies auch tun. Die Geschwindigkeit der wissenschaftlichen Neuentdeckungen wird sich weiter steigern, und die Anforderungen an die Qualität des gesellschaftlichen Diskurses werden entsprechend wachsen. Es ist wert, sich dieser Herausforderung zu stellen, denn die Frage – zitiert aus dem Werbetext eines bekannten Internetunternehmens – steht im Raum: „Are you ready?“

---
© Julius Moll

Keine Kommentare: