Freitag, 13. Januar 2006

Kylltal


Sie sind durch die PISA-Studie ebenso aufgeschreckt worden wie Politiker und Pädagogen? Sie finden Jugendliche heutzutage lasch und unengagiert? Sie finden, der Leistungsgedanke sei in den vergangenen ein oder zwei Jahrzehnten zu kurz gekommen, die Jugend daher verweichlicht und nicht mehr bereit, sich zu schinden?
Beruhigen Sie sich, bitte! Erfahrene Fachleute haben die Probleme ebenfalls erkannt und werden sie in Kürze gebannt haben. Zu den Problemlösern zählt wie immer und überall das Instrument der bundesweiten Standardisierung. So lässt sich ja einfach festlegen, was ein Schüler oder eine Schülerin wissen muss, wenn er oder sie die Mittlere Reife ablegt. Damit das nicht falsch verstanden wird: Das heißt nicht, dass bisher niemand wusste, wie die Kinder zu unterrichten waren, es heißt lediglich, dass es jetzt bundesweit … nun ja … geregelt ist.
Nehmen wir als Beispiel die Mathematik. Da gibt es - wir wissen oder ahnen es alle - recht kniffelige Aufgaben, die uns in der eigenen Jugend ziemlich gebeutelt haben. Da wir aber halt engagierter und leistungsbereiter waren, haben wir diese Klippen ohne großes Murren umschifft. Musteraufgaben für Zehntklässler sollten daher kein großes Problem darstellen.
Also bitte - hier eine solche Aufgabe im Wortlaut: "Die Kylltalbrücke bei Bitburg in der Eifel ist eine der größten frei gespannten Massivbogenbrücken. Die Spannweite des Bogens beträgt 223 Meter. Der Bogen hat annähernd Parabelform. Ein Wanderer will die Höhe der Brücke bestimmen. Im Abstand von 1,20 Meter (bestimmt durch Fußschrittmessung) zum Fußpunkt der Brücke ist der Brückenbogen 2 Meter hoch. a) Wie hoch ist die Brücke? b) Um wie viel Prozent ändert sich die Brückenhöhe, wenn der Wanderer bei der Fußschrittmessung 10 Zentimeter weniger gemessen hätte?"
Alles klar?
Und? Eine spontane Lösung parat?
Ich auch nicht.
Aber ich glaube zu wissen, warum es bei mir hapert. Die Gründe liegen auf der Hand. Es hat damit zu tun, dass das geschilderte Problem Fragen aufwirft, die sich nackter Mathematik verschließen.
Zum Beispiel weiß ich zunächst einmal nicht so recht, was eine Fußschrittmessung ist.
Und selbst, wenn ich es wüsste: Aus welchem Grunde sollte der Wanderer die Höhe der Brücke bestimmen wollen? Bei der angegebenen Spannweite ist sie auf jeden Fall hoch genug, um darunter hindurch zu wandern. Oder will er vielleicht über die Brücke gehen und vorher ausrechnen, wie hoch das Ganze ist, weil er ab einer gewissen Höhe - sagen wir mal 34,75 Meter - Schwindelanfälle und Höhenangst kriegt?
Wir wissen es nicht. Was wir jedoch wissen ist, dass uns die Kylltalbrücke bei Bitburg im Grunde genommen überhaupt nicht interessiert. Ich bitte Sie! Die Kyll! So ein Gernegroßrinnsal, das sich mit irgendeinem Bauwerk hervortun will, weil es sonst keiner beachtet. Das kennt man aus dem richtigen Leben: Am besten nicht beachten!
Da die Fragestellung an sich nun schon so "problembehaftet" ist, wie man in einschlägigen Fachkreisen vermutlich formulieren würde, wie steht es dann erst mit der Zusatzfrage b? Nehmen wir einmal an, es gäbe tatsächlich einen Wanderer (warum muss es eigentlich unbedingt ein Mann sein? Können Frauen keine Mathematik?), der sich erstens an die Kyll verirrt und zweitens diese Rechenoperation meistern kann. Warum in aller Welt (sic!) sollte er sich die Mühe machen, noch einmal mit anderem Schuhwerk zurückzukehren, um sich der Aufgabe erneut zu stellen?
Wenn man der Aufgabenstellung Glauben schenkt, kehrt er in Fußbekleidung anderer Schuhgröße an den mathematisch verfluchten Ort zurück. Vielleicht trägt er nun statt knapp sitzender Wanderstiefel zu groß geratene Manta-Stiefeletten mit langer Spitze. Die nun vorgenommene Fußschrittmessung wird dann natürlich zu unterschiedlichem Ergebnis führen, immer vorausgesetzt, dass tatsächlich zutrifft, was wir hinter dem Begriff "Fußschrittmessung" vermuten.
Und durch diesen Trick soll sich die Brückenhöhe ändern??? Wie soll das denn funktionieren? Meiner Meinung nach ist das eine Fangfrage!
Fassen wir also zusammen und formulieren als Resultat dieser Überlegungen unsere Antworten zur gestellten Rechenaufgabe: 1.) Die Brücke ist hoch genug. 2.) Die Höhe hat mit der Schuhgröße des Wanderers nichts zu tun. 3.) Frauenwanderungen müssen gefördert werden.
Die Antworten mögen den Verantwortlichen nicht gefallen, sind jedoch logisch zwingend und damit nicht zu widerlegen. Versuchen wir uns jedoch vorzustellen, was geschähe, wenn ein Mittelreifer diese Resultate in der Mathematikarbeit präsentierte: Scheitern in der Prüfung, Fall in ein Motivationsloch, Schulwechsel, Sitzenbleiben, keine Lehrstelle, Arbeitslosigkeit, Sozialfall, Obdachlosigkeit, womöglich als Penner endend.
Unter der Brücke.
Kylltal.

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©Julius Moll

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