Mittwoch, 8. Mai 2013

Das Ei des Bocuse


Kennen Sie das? Sie schrecken nachts schweißgebadet aus dem Schlaf hoch, weil plötzlich ein gewichtiges Problem auf Ihrer Bettdecke hockt und Ihnen den Atem nimmt? Nicht so etwas Triviales wie: „Oje, der Erdbeerjoghurt hat um Mitternacht sein Verfallsdatum überschritten.“ Nein, wirkliche Probleme. So zum Beispiel, wenn Ihnen Ihre Frau/Sozialpartnerin/Lebens-abschnittsgefährtin nachmittags eröffnet, dass sie am Abend eine Geschäftsfreundin oder gar die Chefin mit nach Hause bringen wird und von Ihnen erwartet, dass Sie etwas Köstliches zaubern, damit die zwischenmenschlichen Beziehungen gedeihen. Kaum ist die Dame eingetroffen, lässt sie beiläufig fallen, dass ihr Lieblingsgericht „Oeuf d’ur mayonnaise“ sei, was Sie als weltläufiger und gebildeter Hausmann sofort als „Ei, hart gekocht, mit Majonäse“ identifizieren. Ein Blick in den Kühlschrank genügt, um Ihnen den Ernst der Lage klar zu machen: Es gibt nur noch ein einziges Ei! Da es selbstverständlich ist, dass Sie die Majonäse keinesfalls aus einem gekauften Glas entnehmen werden, um den Gast nicht durch mindere Qualität zu verschrecken, stehen Sie nun vor dem Dilemma: „Schlage ich aus dem Eigelb die Majonäse oder überführe ich es in den hart gekochten Zustand?“
Hier nun findet die gepeinigte Seele Trost in den Segnungen einer Wissenschaft, die ihre Protagonisten – allen voran Hervé This-Benckhard – als „Molekulargastronomie“ bezeichnen. Hierbei handelt es sich um das grundlegende Verständnis der biochemischen und physikalischen Prinzipien, die während der Zubereitung Gaumen umschmeichelnder Köstlichkeiten dazu führen, dass das Endergebnis die Mühen rechtfertigt.
Aber was hat das mit dem erwähnten einzelnen Ei zu tun? Nun, Majonäseliebhaber werden wissen, welche Zutaten man für eine selbst gerührte Majonäse verwendet. (Andererseits gibt es auch das Gerücht, dass diejenigen, die wissen, wie Majonäse gemacht wird, nie mehr welche essen – aber das ist ein anderes Thema.) Zur Zubereitung benötigt man ein oder mehrere Eigelb sowie Senf und etwas Zitronensaft (Essig geht auch) sowie eine Menge Pflanzenöl. Diese Mischung wirkt auf fettbewusste Esser naturgemäß abschreckend, aber das soll uns nicht weiter stören. Nachdem man Eigelb, Senf und Zitronensaft vermengt hat, schüttet man unter Kräfte zehrendem Rühren den Rest des Öls langsam hinzu, bis sich die bekannte und beliebte cremige Masse bildet. Frisch gemacht schmeckt dies natürlich viel besser als das, was man an der Würstchenbude als Beilage zu Bottroper Schlachtplatte bzw. Prionenschlauch mit Pommes – vulgo: Currywurst mit Fritten – angeboten bekommt.
Einschlägige Kochbücher geben gerne bestimmte Mengen von Eigelb, Saft und Öl an, die man vermengen sollte, damit die elende Rührerei auch zu einem befriedigenden Ergebnis führt. Das Problem besteht nämlich darin, dass man eine wässrige mit einer öligen Flüssigkeit mischen will. Man ahnt sofort, dass das normalerweise nicht gehen kann, denn eine solche Emulsion müsste sich in kürzester Zeit wieder in die beiden Phasen Fett und Wasser trennen. Ausgeschlossen, dass Sie bei Ihrem Gast punkten könnten, wenn sich nach dem Servieren plötzlich eine widerliche Öllache neben den Überresten der gerade noch so nett anzusehenden Majonäse abschiede.
Dass dies nicht passiert, liegt an den Lecithin-Molekülen im Eigelb. Diese Moleküle (die genaue biochemische Bezeichnung lautet: Phosphatidylcholin) haben bestimmte physikochemische Eigenschaften. Die, die uns hier am meisten interessiert, ist die der Amphipathie, was bedeutet, dass ein Lecithinmolekül einen Wasser liebenden und einen Fett liebenden Teil besitzt. Damit ist es in der Lage, mit einer Hälfte in einem Wassertröpfchen zu stecken und mit der anderen im Pflanzenöl – mit anderen Worten: es wirkt wie ein Vermittler zwischen den unverträglichen Welten des Wassers und des Fettes, vergleichbar mit dem Ringrichter eines Boxkampfes, der während der Urteilsverkündung die Hände von Evander Holyfield und Mike Tyson hält. Wenn Sie die Lecithine nun nicht im Stich lassen und die Emulsion mit dem Schneebesen kräftig schlagen, zerteilen Sie die Wasser- und Öltropfen immer weiter, und wenn sie klein genug sind, kann man sie mit dem bloßen Auge nicht mehr erkennen. Ergebnis: eine wunderbar glatte und homogene gelbe Masse, die nach Majonäse schmeckt. Übrigens: Physik ist eine Multikulti-Angelegenheit, und deshalb haben griechische Köche das gleiche Problem, wenn sie aus Fischrogen Taramas anrühren, nur, dass da die Eier viel, viel kleiner sind (dafür sind es aber deutlich mehr).
Zurück zur Majonäse: Wenn Sie nun zuviel Öl hineinschütten, dann reichen die Lecithinmoleküle des Eigelbs nicht aus, und als Resultat schwimmen Fettaugen in der Creme (man darf gar nicht daran denken!). Also ist die Frage: Wie viel Lecithin hat ein durchschnittliches Eigelb, und wie viel Öl kann man damit aufschlagen? Kluge Köpfe, allen voran Harold McGee, ein Feinschmecker und fantasiereicher Molekulargastronom, haben das durchgerechnet und kamen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass man mit einem Eigelb unter optimalen Bedingungen rund 20 Liter Majonäse herstellen kann (in Worten: zwanzig!). Einmal abgesehen davon, dass niemand 20 Liter Majonäse essen kann, keimt bei dieser Erkenntnis die Hoffnung auf, dass auch wir mit nur einem einzigen Ei im Kühlschrank noch nicht verloren sind, denn offensichtlich reicht uns für den einen popeligen Gast eine recht kleine Menge Lecithin zur Herstellung einer ausreichenden Menge Majonäse, und wir können uns eine pfiffige Lösung ausdenken.
Der erfahrene Hausmann hat sich für diesen Trick am Rande der letzten Prostata-Vorsorgeuntersuchung von seinem Arzt eine Spritze mit Kanüle aushändigen lassen. Mit einer dünnen Kanüle, füge ich hinzu. Die Größen werden in „Gauge“ angegeben, und je größer der Wert, desto dünner die Kanüle. Für unsere Zwecke wäre eine 25-Gauge-Kanüle sehr hilfreich. Diese führen wir nun durch die Schale vorsichtig in das Ei ein und entnehmen so etwa 500 Mikroliter des Eigelbs. Das ist ein halber Milliliter (ein normales Schnapsglas fasst 20 Milliliter Obstler). Aus dieser Menge Eigelb und dem darin enthaltenen Lecithin können wir nun leicht einen Viertelliter Majonäse herstellen. Wer es ausrechnen möchte: Ein normaler Eidotter hat ungefähr einen Durchmesser von 2,5 cm. Der Radius beträgt also 1,25 cm, und das kann man in die Formel 4/3 · π · r3 einsetzen, um das Volumen zu berechnen. Ergebnis: ein normaler Eidotter entspricht ungefähr 8 Milliliter).
Und nun der Pfiff des Ganzen: Wenn wir die 500 Mikroliter entnommen haben, kochen wir das übrig gebliebene Ei, bis es hart ist, und die geschäftliche Verbindung Ihrer Frau ist gerettet!

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©Julius Moll

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