Mittwoch, 8. Mai 2013

Therapeutische Anschläge

Ja, muss man denn wirklich immer in die Ferne schweifen, um stimulierende Eindrücke zu sammeln? Nein, muss man natürlich nicht. Man kann, aber man muss nicht. Zudem ist "Ferne" ebenso relativ wie alles andere in diesem Universum. Geht man beispielsweise zu Fuß von Köln nach Bonn, ist es recht fern. Fährt man dagegen mit dem Auto von Köln in Richtung Süden, hat man Mühe zu merken, dass da überhaupt eine Stadt ist.
Aber ich schweife ab. Der oberbergische Kreis ist nicht wirklich weit entfernt von Köln. Dort gibt es einen Flecken namens Rebbelroth, gelegen zwischen Derschlag und Dieringhausen. Zugegeben: Man muss diese Orte nicht kennen; zusammen sind sie etwa halb so groß wie der Friedhof von Chicago. Aber dann läuft man eben Gefahr, wirklich wichtige Erkenntnisse zu verpassen.
In Rebbelroth findet sich nämlich neben der Ausfahrt des örtlichen Supermarktes etwas fundamental Beeindruckendes: eine "Anschlagsäule für Jedermann". Als ich die Säule erstmals sah, war ich mir sofort der glücklichen Fügung bewusst: Die Säule war unversehrt, und das bedeutete, dass in letzter Zeit niemand einen Anschlag verübt hatte.
Die tiefe philosophische Einsicht dieses nachahmenswerten Plans der örtlichen Verwaltung lässt einen in stille Andacht verfallen. Aggressionsableitung als Prophylaxe, um Schlimmeres zu verhindern: allein als Idee lobenswert, hier aber zudem noch brillant umgesetzt. Wem schwillt nicht hin und wieder der Kamm? Praxisgebühren, Benzinpreis, Irakkrieg, Umweltverschmutzung, Flughafengebühren, Ozonloch, Kapitalismus, Kommunismus, Raucher, Nichtraucher, Atomkraftwerke, Windräder, Kölner, Düsseldorfer, Moscheen, Sonntagmorgenglockengeläut – es gibt immer etwas, was einen auf die Palme bringen kann. Warum dann gleich in den Extremismus abgleiten? Da reicht es doch völlig aus, wenn man die nächste Anschlagsäule in die Luft jagt. Niemand wird verletzt, und die Dinger können umgehend und preiswert ersetzt werden, damit sie dem nächsten unzufriedenen Mitbürger zur Verfügung stehen.
Natürlich wäre Anleitung von Nöten. Dabei könnten auch Varianten dieses Modells vermittelt werden. Volkshochschulen könnten Praxisseminare für stark Unzufriedene anbieten, in denen alte Autos mit Nagelbomben vollgepackt werden – ohne Zünder, versteht sich –, um diese dann in irgendeiner Innenstadt abzustellen. Da wäre dann zumindest der seelische Druck weg, dass man nichts getan hätte, um sich zu artikulieren, aber niemand käme zu Schaden. 
Und warum ins Auto oder Flugzeug stürzen, wenn man denkt, man sei komplett urlaubsreif? Wenn in jeder größeren Ortschaft eine Art Sandkasten mit Strandkorb und einer Tasse Sangria bereitstünde, würde das die Touristenscharen deutlich dezimieren helfen. Niemand mehr müsste gleich den erstbesten freien Tag opfern, um nach Mallorca zu jetten.
Während ich diese tief schürfenden Gedanken in die Tastatur tippe, schimpft drei Meter hinter mir auf einem Zweig Frau Rotkehlchen. Den Ton kenne ich. Den schlägt sie immer an, wenn ihr Gatte nicht genug Futter heranschaffen hilft. Und ihn habe ich in der letzten Stunde weder gesehen noch gehört. Vermutlich hängt er mit Herrn Meise an irgendeinem Rinnsal herum und pfeift irgendwelchen Bachstelzen nach, dieser Tunichtgut. Die Schimpfkanonade seiner Gattin wird intensiver. Vermutlich hätte auch sie gerade eine Verwendung für eine Anschlagsäule.
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© Julius Moll

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