Mittwoch, 8. Mai 2013

Wild Thing

„Wild thing, you make my heart sing!“ 
Aus dem Etablissement dröhnten die ersten Karaoketöne des Abends heraus auf die Terrasse. Dort saß ich mit Heinz, einem deutschen Ingenieur, der bei der NASA arbeitete. Deutsche Ingenieure bei der NASA: Das hatte ja irgendwie Tradition.
Ein wunderbarer Tag neigte sich seinem Ende zu. Zweiunddreißig Grad im Schatten, wenn denn überhaupt irgendwo Schatten gewesen wäre, dunkelblauer Himmel. Das Spaceshuttle war vor ein paar Stunden gestartet, und während Heinz und ich damit beschäftigt waren, den Inhalt eines Pitchers mit einem amerikanischen Bier-Imitat in uns hineinzuschütten, sahen wir dem NASA-Frachter zu, der die beiden abgebrannten Feststoffraketen der Atlantis nach Port Canaveral zurückbrachte. Wie gesagt: ein wunderbarer Tag.

Als sich im Inneren der Kneipe eine Damencombo an „Oops, I did it again!“ versuchte, machte Heinz den dringenden Vorschlag, dass wir uns an einen anderen, gemütlicheren Ort verholen sollten. Mitunter ging der Seglerjargon mit ihm durch, aber ich wusste, was er meinte. Also machten wir uns auf den Weg zu seinem alten Oldsmobile, und knapp zehn Minuten später erreichten wir einen Ort der Subkultur, wobei man hier jetzt nicht diskutieren muss, ob eine Subkultur das Vorhandensein einer Kultur zwingend voraussetzt.
Der nämliche Ort befand sich auf der anderen Seite des Hafenbeckens von Port Canaveral, dort, wo abends die Fischer mit ihrem Fang anlegten. Am Ende des Kais gab es neben einer alten Lagerhalle eine strohgedeckte Hütte, oder besser gesagt: eine überdachte Holztheke. Da tauchte am frühen Abend immer eine junge Dame auf, begleitet von mehreren Kühltaschen, gefüllt mit Bier- und Coladosen. Amerikanisches Kleinunternehmertum vom Feinsten. Und da sie ihrem Geschäft bei Wind und Wetter nachging, wussten die Seefahrer immer, wohin sie nach Dienstschluss gehen konnten, um das Meersalz von den Geschmacksknospen zu spülen.
Und wie das so ist: Wenn sich ein Unternehmen erfolgreich ansiedelt, folgen andere. Heinz dirigierte mich umgehend zu der Lagerhalle. An der Frontseite führte eine Holzstiege hinauf ins Obergeschoss. In einem Raum, in dem früher wohl der Hallenaufseher gehaust hatte, wurden gargekochte Meeresfrüchte offeriert. Heinz orderte mehrere Portionen Krebsfleisch, randomisiert angeordnet auf Papptellern. Als Stammgast wusste Heinz, wie man weiter vorging: Er ging zu einem der roh gezimmerten Holztische, rollte einen Meter Papier von einer bereitliegenden Resterolle ab und verwandelte ihn in die Illusion einer Damasttischdecke. Und kurz darauf erwies sich auch meine Unsicherheit bezüglich fehlenden Essbestecks als unbegründet: An jedem der Tische hingen kleine Holzhämmer an Sisalfäden. Heinz griff sich einen und begann, die Krustentierteile in genießbare Einheiten zu zertrümmern. Der Geschmack passte überhaupt nicht zum Ambiente: Er war grandios! Selten habe ich besseres Krebsfleisch gegessen.

Getränke gab es allerdings nicht. Die gab es unten am Unterstand. Dort waren inzwischen einige Boote eingelaufen, und es begann der Wettbewerb „Wer hat den längsten … äh … Fisch?“ Dazu stellten sich die stolzen Seefahrer mit ihrer Beute neben einer Messlatte auf, und die umtriebige Wirtin schoss Aufnahmen mit einer Digitalkamera.
Heinz bestellte zwei Dosen Bier. Neben uns waren ein paar Männer damit beschäftigt, einen kleinen Eisenring an einem Pendel so in Bewegung zu setzen, dass er einen Nagel in einem Holzbalken traf. Wer es schaffte, kriegte eine Dose Bier.
Einer der Männer hatte ein größeres Bündel tote Fische neben sich liegen, alle so zwischen 30 und 40 Zentimeter groß. Als er mit dem Eisenring auf den Nagel zielte, sagte Heinz: ”Dein Abendessen?“ und deutete auf die Fische.
Käpten Ahab stutzte kurz. „Witzbold! Die fresse ich zum Bier.“
„Was denn, roh?“
Irgendwie gefiel mir das Leuchten in Heinz’ Augen nicht so recht.
„Na klar, roh! Wie denn sonst?“ lachte Ahab.
„Glaub ich nicht.“
Mir stockte der Atem. Die Jungs hier sahen nicht so aus, als seien sie ausschließlich zu Späßen aufgelegt.
Ahab ließ den Arm mit dem Eisenring langsam sinken und musterte Heinz mit dem Blick einer hungrigen Aspisviper. „Wie war das?“
„Glaub ich nicht“, wiederholte Heinz. Ihn schien die Situation nicht zu beunruhigen.
„Fünf Dollar, und ich zeig dir, wie ich die Viecher immer fresse!"
Mit einem kurzen Knall pfefferte Heinz einen Fünf-Dollar-Schein auf die Holztheke. Weiß der Kuckuck, wo er den so schnell hergeholt hatte.
Ahab wunderte sich darüber keine Sekunde lang. Er ließ den Ring fahren, griff sich einen der Fische und biss ihm nachdrücklich den Kopf ab. Nachdem er zwei bis drei Mal gekaut hatte, sah er Heinz triumphierend an. Und nicht nur er. Zwischen seinen Lippen hingen die beiden Fischaugen heraus und glotzten Heinz ebenfalls an.
Der grinste. „Nicht schlecht.“
„Noch mal fünf Dollar, und ich schluck’s runter“, bot Ahab mühsam artikulierend an.
Heinz brauchte fünf Millisekunden, um den zweiten Schein auf die Theke zu hauen.
Ahab begann das abstruse Werk.
Währenddessen sagte einer seiner Kumpane: „Wenn du mir auch fünf Dollar gibst, hau ich ihm eine auf die Schnauze, damit er schneller schluckt.“
Er hatte den Satz noch nicht beendet, da lag der Schein schon bereit. Und ebenso schnell kam Ahab in den Genuss der essunterstützenden Maßnahme.
Jemand anderes sagte: „Die Idioten sollte mal jemand zur Ordnung rufen!“ – und zack! lag der nächste Schein auf dem Tisch.
Fünf Minuten später war Heinz weitere acht Scheine los und die Szenerie glich dem Vorhof zur Hölle. Heinz zog mich am Ärmel hinter sich her zum Auto. Als er Gas gab, sagte er: „An dem Punkt sollte man besser gehen, da wird es ungemütlich.“
Ich war fassungslos. „Woher weißt du das?“
„Mach ich einmal die Woche. Ist doch lustig, oder?“
Ermattet sank ich im Beifahrersitz zusammen. Fünf Dollar! Da fragte man sich, wieso sich der amerikanische Verteidigungsetat der Billionengrenze näherte, wenn man mit Fünf-Dollar-Portiönchen ganze Gesellschaftsstrukturen destabilisieren konnte.
Als wir zur Karaoke-Bar zurückkehrten, intonierte ein Jungmännerchor gerade „Money for nothing“ von den Dire Straits. Das konnte ja noch heiter werden heute Abend.

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© Julius Moll

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